Freiheit zur Kritik
Prof. Dr. M. Shsama
Der Islam legt
die Merkmale der Beziehung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern auf eine
Weise fest, die für jeden dessen persönliche Unabhängigkeit im Rahmen des
sozialen Lebens innerhalb dieser Zelle schützt, aus der die Gesellschaft
geformt ist. Niemand darf die Persönlich-keit eines anderen tyrannisieren, so
dass er über dessen Lebensweise auf eine Weise bestimmt, die dessen Wesenheit
beseitigt oder diesen an der Äusserung dessen Gedanken und an der Auswahl dessen
hindert, was günstig für ihn ist und zu dem dessen Empfindungen und Gefühle
neigen – unter der Bedingung, dass er nicht über den allgemeinen Rahmen
hinaus-geht, der den Zusammenhalt der Familie wahrt und sie vor Zerfall und
Auflösung beschützt und vor Schwäche und Ausmergelung beschirmt. Das geschieht
nur durch Gewähren des Rechtes auf Freiheit der Äusserung für jedes ihrer
Individuen und durch Auswahl dessen, was er für sich selbst als geeignet hält –
unter Wahrung des Rechtes des Familienoberhauptes auf Anleiten und Führen beim
Fassen entsprechender Beschlüsse nach
Darle-gung seiner Gründe und Beweise.
Da die Familie
den Kern der Gesellschaft darstellt, weicht also das, was der Islam innerhalb
der Familie vorsieht, nicht vom Rahmen ab, den er für die Beziehung zwischen
den Menschen im öffentlichen Leben festlegt. Er gibt jeden Muslim die Freiheit
zur Kritik und Anleitung, sogar wenn das mit dem Staatspräsidenten selbst
zusammenhängt. Niemand ist dazu bere-chtigt, Menschen an der Kritik irgendeiner
Persönlichkeit zu hindern, sei sie allgemein oder speziell. Die Kritik am
Missetäter und der Versuch ihn vom abwegigen Verhalten fern zu halten ist
gemäss dem Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen eine Pflicht
für jeden Muslim. Wenn die Muslime dieser Pflicht nicht nachkommen, wird GOTTes
Fluch über sie Wahrheit und sie werden am Tage des Gerichtes mit schwerster
Strafe belegt. GOTT wird demjenigen nicht vergeben, der die Freiheit, die ihm
GOTT gewährt hat, nicht ausübt um den Abwegigen gerade zu richten, es sei
denn er wäre zum Ausüben dieser Pflicht
materiell oder ideell nicht imstande. Der Erhabene sagt:
„Fürwahr,
diejenigen, die – gegen sich selbst Unrecht Handelnde – die Engel endgültig
abberufen –! Sie fragen: „Worin waret ihr?“
Sie sagen: „Wir waren Schwache im Land.“ Sie entgegnen: „War denn GOTTes Land
nicht weit; so wäret ihr darin ausgewa-ndert?“ Jene sind es, deren ständiger
Aufenthaltsort die Hölle ist, und sie ist ein schlimmer Ort, zu dem man
gelangt. Ausgenommen sind die Schwa-chen unter den Männern und Frauen und
Kindern; sie können nichts ausrichten und finden keinen Weg. Jene sind es also,
denen GOTT verzeihen mag, und GOTT ist Vergebung gewährend, stets
verzei-hend. (Qurʾān, Sure 4, Verse 97-99)
ER wird den Beitrag zur
Meinung über das öffentliche Leben und Äusserung des guten Rates an die
Verantwortlichen – selbst wenn die Angelegenheit deren Bekämpfung in Wort und
Schrift erfordert, wenn sie bei der Führung der Staatsgeschäfte Korrupt sind –
nur dieser Gruppe erlassen, die diese Angelegenheit nicht bewältigen kann, als
da sind die Frauen, die Kinder und die Schwachen unter den Männern. Wer also
unter diese nicht einzustufen ist, hat das Rechte zu gebieten und das
Verwerfliche zu verbieten, oder zeitgenössisch ausgedrückt: Er sondert sich vom
öffent-lichen Leben nicht ab, sondern trägt zu ihm durch Meinung und Anleitung
ohne Angst vor einem Herrscher oder Furcht vor einem Fürst bei. Es wird vom
Gesandten GOTTes (GOTT segne ihn und schenke ihm Heil!) über-liefert, dass er
sagte: „Wenn meine Nation sich fürchtet dem Ungerechten zu sagen “Du bist
unge-recht“, dann ist das Erdinnere besser für sie als ihre Oberfläche.“
Das heisst ihr
Leben hat keinen Sinn mehr, denn sie befinden sich in einer Lage, in der der
Tod ehrenvoller und edler als dieses Leben ist, in dem sie nichts besitzt,
sogar keine Meinungsäusserung über die Entsch-eidungen, die ihren Werdegang
bestimmt.
Die freie
Meinungsäusserung ist also nicht nur ein Recht in der islamischen Gesellschaft,
sondern sogar eine Pflicht für jeden Fähigen. Wer diese Freiheit mündlich –
durch Zusammenkünfte und Versammlungen – ausüben kann, der soll sich nicht vor
dieser Arbeit drücken; er hat vielmehr nach besten Kräften und mit jeglicher
Anstrengung danach zu streben das Wort der Wahrheit – oder das, was man glaubt,
dass es die Wahrheit sei – einer grösstmöglichen Anzahl von Menschen
zugänglich zu machen. Und wer sieht, dass er die Möglichkeit hat seine Meinung
schriftlich zu äussern, muss jedes mögliche Mittel benutzen, um seine Meinungen
für die Men-schen zu veröffentlichen. Wenn die Individuen der Nation diese
Pflicht vernachlässigen, setzt GOTT gegen sie jemanden ein, der sie martert und
ihnen Myrrhe zu trinken und Koloquinten zu essen gibt. An jenem Tage können sie
weder dessen Gefängnis verlassen noch sich von dessen Scher-gen befreien. Der
Gesandte GOTTes (GOTT segne ihn und schenke ihm Heil!) sagte: „Bei DEM, in
DESSEN Hand meine Seele ist! Die Stunde des Jüngsten Tages kommt erst, wenn
GOTT lügnerische Fürsten, unmorali-sche Minister, treulose Helfer, ungerechte
Wachtmeister und lasterhafte Qurān-Rezitatoren sendet. Deren Kennzeichen sind
Kennzeichen der Mön-che, deren Herzen sind stinkender als Kadaver, und ihre
Leidenschaften sind vielfältig. GOTT öffnet ihnen die Pforten eines staubigen,
dunklen Aufruhr, dem sie ratlos gegenüberstehen. Und bei DEM, in DESSEN Hand
Muhammads Seele ist! Der Islam wird ganz gewiss Band für Band aufgetrieselt,
dass sogar niemand sagt: GOTT! GOTT! Ihr sollt ganz gewiss das Rechte gebieten
und das Verwerfliche verbieten oder GOTT wird ganz gewiss gegen euch die
schlechten Leute unter euch einsetzen, die euch martern werden. Dann werden die
guten Leute unter euch einladend aufrufen, aber man wird ihnen keine Folge
leisten. Ihr sollt ganz gewiss das Rechte gebieten und das Verwerfliche
verbie-ten oder GOTT wird ganz gewiss gegen euch entsenden, wer mit euren
Jungen kein Mitleid hat und eure Alten nicht respektiert.“ Der Gesandte GOTTes
(GOTT segne ihn und schenke ihm Heil!) sagte auch: „Und bei DEM, in DESSEN Hand
Muhammads Seele ist! Ihr sollt ganz gewiss das Rechte gebieten und das
Verwerfliche verbieten, und ihr sollt ganz gewiss den Törichten tadeln, und ihr
sollt ganz gewiss für die Wahrheit einen Rahmen schaffen – oder GOTT wird ganz
gewiss in eure Herzen gegenseitig Zwietracht säen. Dann wird ER euch
verflu-chen wie ER sie verflucht hat.“
Auf der Erde
gibt es ausser dem Islam kein System – sei es in den vergangenen Nationen oder
in den zeitgenössischen Nationen –, das seine Anhänger verpflichtet den
Abwegigen – selbst wenn dieser ein Herrscher wäre – in Wort und Schrift gerade
zu richten. Denn der Islam sieht, dass auf demjenigen, der eine Abweichung
sieht und sie nicht berichtigt – sofern er dazu die Fähigkeit besitzt –,GOTTes
Fluch liegt. Wenn die Anhänger der modernen Zivilisation stolz sind, dass sie
dem Individuum die Freiheit der Äusserung seiner Meinung in Wort und Schrift
gibt und sich vor den ande-ren Systemen damit brüstet, dass die Gewährung dieses
Rechtes für das Individuum eine Anerkennung der Existenz des Menschen und
Wertschät-zung dessen Rolle im Leben ist – etwas, was vorher im Verlauf der
mensch-lichen Geschichte nicht vorgekommen ist. Ein Muslim hat indes das Recht
über diese Behauptungen noch hinauszugehen und dem Zug jener voranzu-gehen, die
das Verdienst der modernen Kultur in diesem Bereich besingen; ja er hat sogar
das Recht dazu öffentlich bekannt zu geben, dass das, zu dem die moderne Kultur
im Bereich der Garantierung der freien Meinungs-äusserung gelangt ist, dem
nicht gleichkommt, was der Islam dem Men-schen gibt. Denn dieser gibt ihm nicht
nur dieses Recht, sondern macht es ihm sogar zur Pflicht und warnt denjenigen,
der davon nichts wissen will, vor Unheil und Untergang und droht ihm an, dass sein
Leben im Diesseits in schmerzliche Pein
umschlagen wird, wenn er die Wahrheit mit Stillsch-weigen übergeht und nicht die
Freiheit zur Kritik an dem ausübt, was er in der Gesellschaft nicht richtig
sieht. Zu den Dingen, an denen es keinen
Zweifel gibt, gehört, dass derjenige, der für dich den Weg für die Übernah-me
der Mittel zur Erlangung von Würde ebnet, einen niedrigeren Rang hat als
derjenige, der dich mittels aller Massnahmen zwecks Erweckung des Interesses
und zwecks Einschüchterung zur Durchführung dessen anspornt, was deine
Persönlichkeit formt, deine Würde festigt und dein Empfinden deines
Menschenseins vertieft. Welsch ein grosser Unterschied besteht zwi-schen dem,
der sie dir unterbreitet und dir das Recht auf ihre Anwendung gibt, und dem, der
dich nachdrücklich zu ihrer Durchführung veranlasst und dich zu ihrer
Anwendung drängend antreibt!
Das ist nicht
der einzige Unterschied zwischen der freien
Meinun-gsäusserung in den zivilisierten Gesellschaften und dem, was der
Islam dem Muslim in diesem Bereich vorschreibt. Und zwar ist es so, dass die
volle Anwendung der Freiheit das Licht der Welt in den zeitgenössischen
Gesellschaften noch gar nicht erblickt hat. Oft sieht man in vielen
Lebens-bereichen, dass die Angelegenheiten in ihnen durch Regeln und Methoden
entschieden werden, die der freien Meinungsäusserung widersprechen. Ja, die
zur Freiheit einladend Aufrufenden leugnen diese sogar selbst, wenn sie mit
anderen Völkern und anderen Rassen zusammenhängt oder wenn sie und ihre Interessen
auf internationaler Ebene aufeinander
prallen. Im Islam hingegen übten die Muslime in der Frühzeit eine Art Freiheit
aus, die die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte nicht kannte. Abū Bakr
(GOTT möge an ihm Wohlgefallen haben!) – er war nach dem Gesandten GOTTes
(GOTT segne ihn und schenke ihm Heil!) der erste „Herrscher“ der Mus-lime –
legte einen Rahmen für die Freiheit fest, den kein Geist einer der Herrscher
vor ihm geschmiedet hatte; denn er sagte: „O ihr Menschen! Ich bin euer Ḫalīfah,
und ich bin nicht der Beste von euch. Tue ich Gutes, unterstützt mich! Und tue
ich Schlechtes, bessert mich! … Gehorcht mir, solange ich GOTT und SEINEM
Gesandten gehorche! Bin ich gegenüber GOTT und SEINEM Gesandten widerspenstig,
gibt es für euch mir gegen-über keinen Gehorsam.“
Und ebenso
forderte ʿOmar Ibn Al-Ḫaṭṭāb von den Muslimen ihn zu bessern, falls sie bei ihm
eine Abwegigkeit sähen. Das ist eine Daʿwah vom Herrscher seinen Untertanen
gegenüber zu kritisieren, was diese nicht rechtschaffend sehen. Und das kommt
nur aus einer hehren Seele, die am Tisch des Prophetentums aufgezogen und von
den Prinzipien des Islam durchtränkt wurde… Dann sehen wir Harmonie mit den
Untertanen. Es ist überliefert, dass ihm ein Mann in jener Ansprache mit den
Worten antwor-tete: „Bei GOTT! Hätten wir bei dir etwas Krummes gefunden, hätten
wir es mit unseren Schwertern gerade gerichtet.“ Diese Kommentierung drückt
jedenfalls, auch wenn in ihr die Rauheit der Araber und die Schärfe der
Beduinen erscheint, den Umfang der freien Meinungsäusserung unter dem Schutz
des islamischen Staates aus. Ja die Antwort auf ʿOmar gilt sogar als eine
ehrende Auszeichnung, mit der sich die Nationen in ihrer Geschichte schmücken,
und als ein leuchtendes Licht auf den Seiten der Muslime, das die Behauptungen
der Sprecher im Namen der politischen Freiheit in dieser Zeit verstummen lässt.
Da traten keine Sicherheitskräfte dem Mann ent-gegen um diesen zum Schweigen zu
bringen oder ihn von der Versam-mlung zu entfernen, weil er den Anstand bei seinem
Gespräch mit dem ersten Mann im Staat nicht einhält. Sie peitschten ihn auch
nicht aus oder warfen ihn in die finsteren Tiefen des Gefängnisses, wo seine
Leute seine Spur verlieren, sobald er sich von ihnen entfernt hat – wie es die
meisten Herrschaftsregime in dieser Zeit machen, in der deren Zeitgenossen auf
den Aufstieg und Fortschritt stolz sind. Vielmehr sprach ʿOmar Ibn Al-Ḫaṭṭāb
(GOTT möge an ihm Wohlgefallen haben!) seine bekannten Worte: „Lob gebührt
GOTT, DER in der Nation Muhammads jemanden erschaffen hat, der die Unebenheiten bei ʿOmar mit seinem Schwert
gerade richtet.“
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